Die Stadt Recife bindet ihre Bürger seit 2001 in die Weiterentwicklung ihrer Stadt ein. Mehr als 100.000 Erwachsene und Jugendliche beteiligen sich jährlich an Versammlungen und über das Internet. Sie bringen Vorschläge für städtebauliche Maßnahmen ein, begleiten deren Umsetzung und bestimmen Prioritäten in verschiedenen Politikbereichen.
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Begonnen
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Hintergrund
Recife ist die Hauptstadt des Bundesstaates Pernambuco an der Nordostküste Brasiliens und hat rund 1,6 Millionen Einwohner. Sie ist eine Stadt der sozialen Gegensätze: Lange Strände mit exklusiven Hotels stehen Slum-Gebieten gegenüber, in denen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung leben.
Der Grundstein für die Bürgerbeteiligung in Recife wurde in den 1990er Jahren gelegt. Nach 20 Jahren Militärdiktatur sollte die Demokratie einkehren und sorgte in Recife für eine politische Neuausrichtung. Die Bevölkerung erwartete sich von dem Umschwung eine Verbesserung ihrer Lebensqualität, die jedoch mit den knappen finanziellen Mitteln des städtischen Haushaltes nicht erfüllt werden konnten. Nach ersten Ansätzen ab 1993, wurde 2001 eine umfassende und nachhaltige Form der Bürgerbeteiligung mit dem Ansatz des „Orçamento Participativo" (Budgetbeteiligung) umgesetzt.
Ziel
Die Ziele des Bürgerhaushalts in Recife sind vielfältig. Er soll dazu beitragen, dass:
- Haushaltsmittel bedarfsgerecht eingesetzt werden,
- vor allem benachteiligte und problematische Stadtteile eine bessere Entwicklungsmöglichkeit erhalten,
- Bürger befähigt werden, sich stärker einzubringen,
- ein kontinuierlicher Austausch zwischen Bürgern, Politik und Verwaltung stattfindet,
- Korruption durch verstärkte Abgabe von Entscheidungen an die Bürger und Kontolle durch die Bürger eindämmen.
Prozess
Das Beteiligungsmodell in Recife besteht aus drei Instrumenten: einem Prozess zur regionalen Stadtentwicklung, themenorientierten, stadtweiten Foren und einem Beteiligungsprozess an Schulen.
Im Zentrum des Beteiligungsmodells steht die jährliche regionale Stadtentwicklung, in deren Rahmen Bürger Vorschläge für städtebauliche Maßnahmen erarbeiten, auswählen und deren Umsetzung begleiten.
Das Stadtgebiet Recifes wird für diesen Prozess in sechs Regionen und 18 Mikroregionen unterteilt, sodass jeder Stadtteil seine eigenen Prioritäten definieren kann.
Um die Bevölkerung über den Ablauf zu informieren, verteilen rund 70 Mitarbeiter der Stadtverwaltung Handzettel in allen Stadtbezirken. Außerdem stehen sie für Diskussionen mit Bürgern bereit und organisieren jedes Jahr hunderte informelle Treffen und öffentliche Versammlungen.
Projektvorschläge einzelner Bürger müssen von mindestens zehn Personen unterstützt werden, um von der Verwaltung akzeptiert und auf technische und finanzielle Umsetzbarkeit geprüft zu werden. Auf öffentlichen Foren werden alle eingereichten Vorschläge vorgestellt. Die Teilnehmer dürfen zehn Projektvorschläge pro Mikroregion auswählen. Bürger, die nicht an den Foren teilgenommen haben, können ihre Favoriten über das Internet bestimmen.
Auf den öffentlichen Foren werden zudem für jede Mikroregion Delegierte gewählt, die in Haushaltsfragen geschult werden und die Projektvorschläge im Rahmen monatlicher Treffen weiter ausarbeiten. Die Delegierten bestimmen wiederum pro Mikroregion zwei Personen aus ihrer Mitte, die einen Haushaltsrat bilden. Dieser diskutiert die Projektvorschläge mit dem Stadtrat, der die Umsetzung der Maßnahmen verabschiedet. Der so beschlossene Haushaltsplan wird in den einzelnen Mikroregionen auf Veranstaltungen präsentiert. Die Bewohner der jeweiligen Mikroregion wählen dort auch Vertreter, die die Umsetzung der Projekte in ihrer Nachbarschaft begleiten und überwachen. Das jeweilige Budget für die ausgewählten Maßnahmen wird erst im Nachhinein festgelegt, da in vielen Fällen zusätzlich zu den städtischen Mitteln (ca. 10 Prozent des Haushaltes) weitere Geldgeber gewonnen werden können (u. a. Bund, Weltbank).
Zusätzlich zum Bürgerhaushalt werden stadtweite, themenorientierte Versammlungen zu 15 Politikbereichen wie Kultur, Bildung, Frauen, Alter und Jugend eingerichtet. Auf diesen Treffen können die Bürger Probleme diskutieren, Prioritäten festlegen und Maßnahmen entwickeln. Auch hier wählen die Teilnehmer Delegierte, die die Ergebnisse in monatlichen Foren diskutieren und je zwei Mitglieder in den stadtweiten Bürgerrat entsenden.
Um auch Jugendliche einzubinden, führt die Stadt alle zwei Jahre einen Beteiligungsprozess an den öffentlichen Schulen durch. Die Schüler können im Laufe des Prozesses Verbesserungs-vorschläge für ihre Schule einbringen und deren Umsetzung begleiten. Jede Schule entsendet zwei Schüler in einen Schülerrat, der die Vorschläge der Schüler mit der Stadtverwaltung diskutiert.
Ergebnisse
Im Jahr 2009 nahmen rund 44.000 Personen an den lokalen und regionalen Veranstaltungen, 7.000 an den thematischen Versammlungen teil. 74.000 beteiligten sich über das Internet oder die elektronischen Wahlurnen. Rund 2.400 Delegierte wurden 2009 im Rahmen des regulären Bürgerhaushaltes und der thematischen Plenarforen gewählt, 446 Delegierte in den Schülerrat entsandt.
Seit Einführung des Bürgerhaushaltes im Jahr 2001 wurden bis 2010 rund 3.000 Maßnahmen umgesetzt. Ein Großteil der Investitionen floss in die ärmeren Regionen der Stadt.
Weitere Informationen
Seit 2006 entscheiden die Bürger über die Weiterentwicklung des Beteiligungsprozesses selbst. Die gewählten Delegierten machen hierzu Vorschläge, über die auf den regionalen Foren abgestimmt wird.
Die Stadt Recife wurde 2011 mit dem Reinhard Mohn Preis der Bertelsmann Stiftung für ihren Bürgerhaushalt ausgezeichnet.
Kontakt
Alexander Koop
Projektmanager - Bertelsmann Stiftung
alexander.koop@bertelsmann-stiftung.de
Sarah Seidemann
Projektmanagerin - Bertelsmann Stiftung
sarah.seidemann@bertelsmann-stiftung.de