Vertreter*innen aus Protestbewegungen, Wissenschaft und Parteien entwickelten einen Crowdsourcing-Prozess in dem Bürger*innen online ihre Ideen und Vorschläge zur Reform des politischen Systems einbrachten, die zunächst von Expert*innen bewertet und anschließend in einer Bürger*innenversammlung (Rahvakogu) diskutiert und abgestimmt wurden.
Ort
Dauer
Hintergrund
Im Jahr 2012 erschütterte ein Skandal um illegale Parteienfinanzierung das kleine Land im Baltikum. Dieser Skandal führte zu den größten Massenprotesten seit der friedlichen Unabhängigkeitsbewegung Ende der 80er Jahre. Die Protestbewegung forderte strengere Regelungen für die politischen Parteien und ihre Finanzierungspraktiken. Der Präsident Estlands lud in der Folge Vertreter*innen aus Protestbewegung, Wissenschaft und Parteien zu einem Treffen ein, um der Krise zu begegnen.
Ziel
Das Ziel des Prozesses war es Maßnahmen zu entwickeln, um der politische Krise zu begegnen und Vertrauen in das politische System wiederherzustellen.
Prozess
Für die Rahvakogu wählten die Organisatoren aus dem estnischen Bevölkerungsregister 550 Bürger*innen zufällig aus. Die Auswahlkriterien waren: Alter, Geschlecht, Beschäftigungsverhältnisse und Wohnort, um ein möglichst repräsentatives Abbild der Gesellschaft zu erreichen. Von den 550 Bürger*innen erklärten sich 314 bereit an dem Beteiligungsprozess mitzumachen. Der Beteiligungsprozess bestand aus drei Phasen: In Phase eins sammelten die Organisatoren online Eingaben und Ideen der Bürger*innen ein. In Phase zwei sortierte und bewertete ein Expert*innen-Gremium die Vorschläge und in Phase drei wurden die Themen in einer Bürger*innenversammlung beraten. Crowdsourcing-Prozess: Zu fünf Themen brachten die Bürger*innen Ideen online ein: Wahlsystem, Parteienwettbewerb und innerparteiliche Demokratie, Parteienfinanzierung, Stärkung der Rolle der Zivilgesellschaft bei Entscheidungen außerhalb von Wahlen sowie Politisierung öffentlicher Ämter. Mehr als 6.000 Ideen und Kommentare reichten die Bürger*innen ein. Expert*innen-Gremium: Expert*innen u.a. aus den Bereichen Wirtschaft, Politik- oder Rechtswissenschaft führten die Vorschläge zusammen, erarbeiteten Szenarien und Folgenabschätzungen. Anschließend fanden fünf Seminare für politische Vertreter*innen, Expert*innen und Bürger*innen statt, die Vorschläge im Crowdsourcing-Prozess eingebracht hatten. Gemeinsam mit den Expert*innen diskutierten sie über die fünf Themen. Als Ergebnis der Seminare und Expert*innenberatung legte man 18 Empfehlungen vor. Bürger*innenversammlung: In professionell moderierten Kleingruppen von zehn zufällig ausgewählte Personen debattierte die Gruppe die Vorschläge. Der Gruppe standen Informationsmaterialien und Expert*inneneinschätzungen zur Verfügung. Nach der Deliberationsphase wurde über die Empfehlungen abgestimmt. Man einigte sich auf 15 Gesetzesempfehlungen, die dem Präsidenten übergeben und dem Parlament vorgelegt wurden.
Ergebnisse
Drei der 15 Empfehlungen setzte die Regierung vollständig um. Vier setzte der Gesetzgeber teilweise um. Die Reformen im Einzelnen sind:
- Legalisierung von Volksinitiativen mit mindestens 1.000 Unterstützer*innen.
- Die Gründung einer Partei ist mit 200 Mitgliedern möglich.
- Parteien können den Kautionsbetrag durch Unterschriften von Unterstützer*innen teilweise ersetzen.
Die gelungene Verzahnung von online Ideensammlung, Bewertung durch Expert*innen und informierter Entwicklung von Empfehlungen durch Bürger*innenversammlung führte zu effektiven Reformen der Demokratie im Lande. Das gut und ernst gemeinte Beteiligungsangebot des Präsidenten versachlichte die Proteste, überführte die Unzufriedenheit in konkrete Reformschritte zur Parteienfinanzierung und zu einer stärkeren Bürger*innenbeteiligung durch ein dauerhaftes Onlineformat. Die Erfahrungen mit diesem Beteiligungsprozess wurden weitergenutzt: Etablierung einer Beteiligungsplattform und Fortführung des Beteiligungsprozesses, bspw. Zum Forstplan 2030.